Grußwort bei der Jahreskonferenz des Internationalen Rats der Christen und Juden

„Zeit für eine Neuverpflichtung. Der jüdisch-christliche Dialog, 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Schoa“ – unter dieser Überschrift veranstaltet der Internationale Rat der Christen und Juden seine Jahreskonferenz in diesem Jahr in Berlin.

I.

Gern komme ich der Einladung nach, beim Beginn dieser Konferenz zu Ihnen zu sprechen. Herzlich heiße ich Sie in Berlin willkommen. Vor allem aber will ich gleich zu Beginn unterstreichen, dass eine Neuverpflichtung im Sinne der „Zwölf Punkte von Berlin“, die während dieser Tagung diskutiert und veröffentlicht werden sollen, alles andere als überflüssig ist. Das gilt unbeschadet aller positiven Veränderungen in der Beziehung zwischen Juden und Christen, die auch in der evangelischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten Gott sei Dank in Gang gekommen sind.

Mit Berlin als Tagungsort ist ja eine doppelte Erinnerung verbunden: Berlin ist die Stadt, von der das alles übersteigende Unrecht gegenüber dem jüdischen Volk, das in dem Versuch seiner Vernichtung gipfelte, seinen Ausgang genommen hat. Hier in Berlin fand die unsägliche Wannseekonferenz statt; hier lebten Menschen wie Hitler und Himmler, Heydrich und Eichmann.

Auch siebzig Jahre später können wir leider nicht sagen, dass der Geist des Antisemitismus in Deutschland gänzlich verschwunden ist. In einer Zeit zunehmender wirtschaftlicher Unsicherheit und wachsender sozialer Gegensätze finden immer wieder Gruppen und Parteien Zustimmung, die sich mehr oder weniger offen antijüdischer Stereotypen und Vorurteile bedienen. Dass sie nur eine Minderheit darstellen, ist kein Trost. Denn ihre Existenz und Resonanz, die sich zuletzt auch in manchen Regionen Deutschlands in den Stimmenanteilen rechtsextremer Parteien bei der Europawahl ausgedrückt hat, muss uns beunruhigen und zu äußerster Wachsamkeit herausfordern.. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Christentum und Judentum, zwischen Kirche und Israel hat spätestens seit den nationalsozialistischen Verbrechen am jüdischen Volk jede Beliebigkeit verloren. Deshalb beschämt uns das immer wieder neue Aufflackern des Antisemitismus in Deutschland.

Aber zum Glück verbindet sich mit Berlin nicht nur die Erinnerung an den Ausgangspunkt der Schoa. Mit Berlin verbindet sich auch die Erinnerung an die Synode der Evangelischen Kirche in Weißensee, bei der im Jahr 1950 – also drei Jahre nach den Seelisberger Thesen, die am Anfang des Internationalen Rates der Christen und Juden stehen – zum ersten Mal namens der evangelischen Kirche die Schuld an der Verfolgung der Juden in Europa ausdrücklich benannt und eingestanden wurde:

„Wir sprechen es aus, daß wir durch Unterlassen und Schweigen vor dem Gott der Barmherzigkeit mitschuldig geworden sind an dem Frevel, der durch Menschen unseres Volkes an den Juden begangen worden ist.“

Die evangelischen Kirchen in Deutschland haben seitdem viele Schritte unternommen, um den Ungeist antijüdischen Denkens aus unseren Gebeten und Liedern, aus unserem Glauben und unserer Theologie zu tilgen. Immer wieder haben sich einzelne Landeskirchen, aber auch die Evangelische Kirche in Deutschland als ganze unzweideutig gegen alle Formen des Antisemitismus ausgesprochen. Aber diese Aufgabe und speziell die Verpflichtung zur Fortführung und Intensivierung des jüdisch-christlichen Dialogs, die in den ersten beiden der „Zwölf Punkte von Berlin“ genannt werden, begleiten uns auch in Zukunft.

Zu Recht heben die „Zwölf Punkte“ hervor, dass Vertrauen und Gleichberechtigung („trust and equality“) zwischen den Beteiligten eine unerlässliche Voraussetzung für den jüdisch-christlichen Dialog bilden. In diesem Sinne hat auch die Studie „Schritte der Erneuerung im Verhältnis zum Judentum“ (Christen und Juden III [2000]) der Evangelischen Kirche in Deutschland den Begriff der „Begegnung“ als den Begriff herausgestellt, der am besten dazu geeignet ist, den jüdisch-christlichen Dialog zu beschreiben:

„Der Begriff ‚Begegnung‘ … stellt die tiefe personale Dimension der Beziehung heraus. In einer Begegnung bleibt für die Dominanz des einen über den anderen Partner kein Raum, wohl aber für den gegenseitigen Respekt, für die Achtung der Überlieferung, in der der Partner steht, und vor den Überzeugungen, zu denen er gelangt ist. Vor allem aber ist der Begriff ‚Begegnung‘ auch offen für Gott, der über beiden Partnern steht und dem gegenüber beide verantwortlich sind und bleiben“ (Christen und Juden III, S. 61).

Die zwölf Punkte, die in diesen Tagen diskutiert und beschlossen werden sollen, richten den Blick in diesem Sinne ganz nach vorn. Sie sind ein Ruf, auf dem Weg der Verständigung und der gegenseitigen Achtung weiterzugehen.

II.

Neu gegenüber den Seelisberger Thesen von 1947 ist, dass sich die „Zwölf Punkte von Berlin“ in zwei gesonderten Teilen nicht nur an die Christen (1.-4.), sondern auch an die Juden (5.-8.) wenden. Dazu tritt ein Appell an beide zugleich (9.-12.).

In der Tat bedarf es des guten Willens und der Bemühungen auf beiden Seiten, wenn wir im Sinne der Neuverpflichtung miteinander vorankommen wollen. Die Aufarbeitung von Vorurteilen, von abwertenden Meinungen und verächtlichen Äußerungen in Texten der Vergangenheit und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart bleibt eine wichtige Aufgabe für Christen und Juden. Noch wichtiger ist die Würdigung der Bemühungen auf beiden Seiten, die jeweils eigenen blinden Flecken wahrzunehmen und dem anderen in seiner Andersartigkeit mehr und mehr gerecht zu werden.

Der jüdisch-christliche Dialog der vergangenen Jahrzehnte hat den wechselseitigen Blick dafür geschärft, was Christen und Juden im Glauben an den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und Vater Jesu Christi miteinander verbindet und voneinander unterscheidet. Auf christlicher Seite ist die Überzeugung gewachsen und zum Gemeingut geworden, dass Gottes Bund mit dem Volk Israel ungekündigt und durch die Kirche nicht ersetzt ist.

Ein aufrichtiges Miteinander in Vertrauen und Gleichberechtigung erfordert – und ermöglicht! – aber auch, dass wir „einander in vollem Bewusstsein auch unserer Unterschiede“ (so das Vorwort der Zwölf Punkte) akzeptieren. Für uns Christen ist das Bekenntnis zu Jesus Christus als Gottes Sohn, als Herr und Erlöser der Welt der Kern unseres Glaubens und unserer Verkündigung. Dies markiert einen solchen zentralen Unterschied.

Der jüdisch-christliche Dialog kann nicht das Ziel haben, die zwischen Juden und Christen mit dem Blick auf Jesus Christus im Gottesverständnis bestehende Spannung aufzuheben. Vielmehr findet der Respekt für das Anderssein des Anderen darin seinen Ausdruck, „dass das gemeinsame Bekenntnis zu dem einen Gott sich verbindet mit dem Bewusstsein einer wohl bis zum Ende der Zeiten bleibenden Differenz im menschlichen Verständnis des Wesens und Wirkens dieses Gottes“ (Erklärung des Gemeinsamen Ausschusses „Kirche und Judentum“ der EKD, UEK und VELKD zur Thesenreihe „Dabru emet“ [Redet Wahrheit] des National Jewish Scholars Project (USA), 2005).

III.

Wenn der jüdisch-christliche Dialog in dem eben beschriebenen Sinne als wirkliche Begegnung gestaltet wird, dann liegt darin die Grundlage dafür, dass Juden und Christen gemeinsam der Einladung folgen können, die in den schon angesprochenen letzten vier der „Zwölf Punkte von Berlin“ ausgesprochen wird:

Juden, Christen und auch Muslime werden in diesen Abschnitten nicht nur aufgefordert, sich gegenseitig in ihrer Verschiedenheit zu respektieren und sich in ihrer Würde wechselseitig zu achten, damit sich ihr Miteinander weiter entwickeln kann. Und nicht nur die Wichtigkeit interreligiöser und interkultureller Erziehung wird zu Recht betont.

Sondern die Selbstverpflichtung des Internationalen Rats der Christen und Juden stellt auch das Eintreten für soziale Gerechtigkeit in einer globalisierten Welt und die verantwortliche Haushalterschaft in Bezug auf die Mitwelt als dringliche Aufgaben heraus, die von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam mit „allen Menschen guten Willens“ in Angriff zu nehmen sind. Als ebenso wichtig erscheint mir das gemeinsame Eintreten für die unantastbare Würde der menschlichen Person in allen Phasen und Situationen ihres Lebens; das Eintreten für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens schließt die Verantwortung für einen gerechten Frieden ein.

Für uns als Christen erwächst dieses Engagement aus dem Glauben an Gott als Schöpfer, Versöhner und Erlöser. Zugleich ist dieses Engagement offen dafür, sich mit denen zu verbinden – „to network“ (wie es der letzte der Zwölf Punkte formuliert) –, die sich in der gemeinsamen Verantwortung für diese Welt und ihre Zukunft verpflichtet wissen. In diesem Einsatz wissen wir uns mit allen Juden und Muslimen weltweit verbunden, die ihr Handeln an denselben oder vergleichbaren Zielen ausrichten.

Am Anfang und am Ende der „Zwölf Punkte von Berlin“ steht nicht der Appell an andere, sondern eine Selbstverpflichtung des Internationalen Rates der Christen und Juden und seiner Mitgliedsorganisationen. Mein Wunsch ist, dass diese Selbstverpflichtung viele dazu motiviert, sich an der Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Juden und Christen zu beteiligen.

Bei diesem gemeinsamen Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit, für die Würde des Menschen und die Bewahrung der uns anvertrauten Natur steht „unsere Hilfe im Namen des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat und der Treue hält ewiglich“ (Psalm 146,6).

Ich freue mich über die Initiative, die von dieser Jahreskonferenz in Berlin ausgehen soll, und wünsche Ihren Beratungen einen guten Verlauf. Seien Sie noch einmal herzlich willkommen in Berlin!